Rede Eva Herzog 59. Solothurner Filmtage 17.1.2024

Liebe bekannte Gesichter aus Politik, Kultur und Medien
Liebe Filmfreundinnen und Filmfreunde

Herzlichen Dank für die Einladung, die mich sehr gefreut und geehrt hat. Ich musste Ständeratspräsidentin werden, um hier vor Ihnen stehen zu dürfen!

Und auch so ist es nicht selbstverständlich. Andi Spillmann musste mich ja erst noch einladen. Wir kennen uns seit fast 30 Jahren, das kann dann auch ein Grund sein, jemanden nicht einzuladen…

Zumal unsere Beziehung mit nicht geringen Startschwierigkeiten begonnen hat.
In der zweiten Hälfte der 90er Jahre habe ich in der damaligen Kulturwerkstatt Kaserne in Basel gearbeitet, war Mitglied des sechsköpfigen Leitungsteams. Andi war damals neu Kulturbeauftragter von Basel-Stadt und als solcher auch im Vorstand der Kaserne.

Ein Leitungskollektiv war für den Volkswirt ganz offensichtlich etwas gewöhnungsbedürftig… Und wir fanden, er sei ein Besserwisser, führe eine grosse Lippe, ein typischer «Zürcher» eben… wie hatten wir das verdient in Basel!
Und dann wollte er auch noch gestalten und tat es auch! Das hat immer wieder genervt, war aber nicht nur zum Schaden des Basler Kulturlebens, das will ich doch zugeben.

Und wenn wir schon beim beliebten Thema Basel und Zürich sind:

Aktuell könnte man in der Politik von einer «Verbaslerung» der Schweiz sprechen. Damit zitiere ich den eben erst abgetretenen Bundesrat Alain Berset, der all die Jahre so gerne hierher zu Ihnen nach Solothurn gekommen ist. Er hat im vergangenen Dezember am Fest des höchsten Schweizers und der höchsten Schweizerin in Basel von «Verbaslerung» gesprochen. Fast hätte ich gesagt, gewarnt.

Und da wusste Alain noch nicht, dass die Region Basel eine Woche später mit Beat Jans das Triple machen würde.

Triple… Hm, die Fussballsprache. Wir sind da im Moment etwas gehemmt in Basel. Wir setzen aktuell eher darauf, dass Beat dem Gesamtbundesrat bei der EU-Frage den Meister zeigt. Und wir freuen uns, dass man Sarah Spale für ganz unterschiedliche Rollen einwechseln kann. Und wenn es die Männer grad nicht so bringen im Fussball, dann konzentrieren wir uns eben auf die Vorbereitung der Frauenfussball EM im 2025.

Cette année présidentielle est, pour moi, l’occasion de nombreuses premières, une autre c’est le Forum économique mondial de Davos, d’où je viens d’arriver il y a quelques minutes. Ce sont deux mondes très differents, mais je vous assure, j’ai trouvé des points communs :
• à Davos comme à Soleure, on essaie de comprendre le présent ;
• à Davos comme à Soleure, on cherche à raconter l’avenir.

Liebe Filmfreundinnen und Filmfreunde

Es ist heute fast Pflicht, bei jeder Rede einen Absatz zu bringen, was künstliche Intelligenz zum Objekt der Begierde sagt. So habe auch ich nach fünf Adjektiven zu den Filmtagen gefragt. Die Antwort war: «Inspirierend, vielfältig, informativ, unterhaltsam, bereichernd.» Da KI nichts erfindet, was nicht schon geschrieben wurde, sondern primär mal schneller findet und hoffentlich fehlerfrei schreibt, was Sache ist – kann das nicht so falsch sein.

Aber ich habe dann doch noch die richtige Intelligenz gefragt. Ivo Kummer. Ihn muss ich hier nicht vorstellen.
Die Antwort von Ivo: «Die Filmtage machen genau das, was Du in Deinem Präsidialjahr auch versuchst: Unsere Schweizer Realität beschreiben und diese diskutieren.»

Und die zeigt sich eben nicht in Filmen wie «Heidi» oder «Romeo und Julia auf dem Dorfe», obwohl Schweiz Tourismus nach wie vor an diesen Bildern Freude hat. Gegen diese Bilder treten Serien an wie «Tschugger», wo mit unübertroffener Selbstironie in etwa alle Stereotypen unseres Landes durch den Kakao gezogen werden, oder etwas braver vielleicht «Der Bestatter», der das Durchschnittliche der Agglo mit Mord und Totschlag kombiniert oder «Wilder», mit seiner Darstellung der rauhen Wirklichkeit in den Bergen mit tragischen und verdrängten Schicksalen statt Bergromantik.

Nicht zu vergessen einer meiner Lieblingsfilme, «Die göttliche Ordnung», der 2017 die Solothurner Filmtage eröffnete und der meisterhaft das Seilziehen um die Gleichberechtigung der Frauen in den 70er Jahren thematisiert. Schauplatz ist ein verschlafener Ort auf dem Land, mit starken Frauen und auch mit sensiblen Männern.

«Aristocats» war übrigens mein allererster Film, den ich als Kind im Kino in der Stadt gesehen habe. Daran erinnere ich mich bis heute, soviele Filme später – so sehr hat mich dieses erste Kinoerlebnis beeindruckt. Ich liebe Filme, die grosse Leinwand, das Eintauchen in Geschichten, in andere Realitäten, mich abzulenken, zu unterhalten, mitzufiebern, zu lachen und zu weinen, und auf neue Ideen zu kommen.

Ich gehöre zur Generation, die noch weiss, was ein Strassenfeger ist: Wenn alle gleichzeitig Tatort, den Kommissar, Robert Lembke – «welches Schweinderl hätten S’ denn gern?» – oder die deutsche Hitparade schauen. Oder noch vorher als Kinder… Daktari, Raumschiff Enterprise oder Bonanza. Wer noch keinen Fernseher hatte, schaute bei den Nachbarn.

Das hat seine Fortsetzung gefunden bei Nachtessen mit Freundinnen und Freunden, wenn alle erzählen, welche Kinofilme sie schauen und in den letzten Jahren zunehmend auch, welche Serien. Erst mit schlechtem Gewissen, dann immer offener. Und mit Freude habe ich festgesellt, dass der künstlerische Leiter der Filmtage ein unverkrampftes Verhältnis hat zu Serien!

Ihre Qualität wird ja auch immer besser, und es ist durchaus auch etwas Schönes, für eine längere Dauer als zwei Stunden in die Welt einer Erzählung eintauchen zu können. Aber natürlich beobachte auch ich das Kinosterben mit Sorge. Und bin entsprechend froh, dass wir mit der so genannten «Lex Netflix» einen Schritt in die richtige Richtung machen. Damit sollen unserem Filmschaffen ab diesem Jahr etwa 18 Millionen Franken jährlich zusätzlich zur Verfügung stehen.

Die Solothurner Filmtage sind seit fast sechzig Jahren der Seismograph, der die kleinsten Veränderungen und Verwerfungen unserer Gesellschaft festhält. In verdichteter Form stellen sie unsere Sorgen, Ängste wie auch Freuden zur Diskussion – als Ergänzung zur Welt der Zahlen und Fakten. Sie ermuntern zur Diskussion und zum Austausch und treten so im Idealfall gegen Ideologie und populistische Vereinfachungen an.

Liebe Filmfreundinnen und Filmfreunde
Nur eine Gesellschaft, die auch der Veränderung Positives abgewinnt, ist eine erfolgreiche Gesellschaft.

Und dafür braucht es Orte wie Solothurn,
• wo die Schweiz auch von aussen auf sich selber blicken kann
• Dazu braucht es eine Politik, die dafür sorgt, dass sich alle entfalten können, dass niemand bei Seite gelassen wird.
• Dazu braucht es einen offenen Geist.

Und wie sieht es aus mit der Veränderungskraft der Schweiz in diesen unruhigen Zeiten?

Mit Freude stelle ich fest, dass nach langem Stillstand endlich wieder Bewegung in die Beziehung der Schweiz und der EU gekommen ist. Das ist eine gute Nachricht. Denn die Schweizer Wirtschaft, die Wissenschaft und auch der Film sind auf eine gute, geregelte Zusammenarbeit mit Europa angewiesen.

La Suisse est au milieu de l’Europe, que ce soit sur les plans géographique, politique ou culturel. Il ne faut donc pas résumer nos liens avec les Européens à nos seules relations commerciales : avec eux, nous partageons un continent, mais aussi des valeurs. Les guerres en Ukraine et au Proche-Orient nous ont rappelé l’existence d’une véritable identité européenne.

Gerade jetzt zeigt sich wieder, wie wichtig das Völkerrecht ist. Wie wichtig es ist, dass die demokratischen Staaten zusammen für ihre Werte einstehen. Das war auch in Davos zu hören und dafür steht auch die Aussenpolitik der Schweiz mit dem Willen, einen Gipfel zu veranstalten, der den Frieden in der Ukraine vorantreiben soll.

Liebe Filmfreundinnen und Filmfreunde

Je kleiner ein Land, umso grösser das Ausland.

Mehr als die Hälfte aller Einwohnerinnen und Einwohner der Schweiz lebt in einer Grenzregion. 15 Kantone haben eine Grenze mit einem unserer Nachbarländer Frankreich, Deutschland, Italien, Österreich oder Liechtenstein.

Das ist eine Realität. Eine Realität ist auch, dass die Schweiz das am meisten globalisierte Land der Welt ist. Im Herzen von Europa und mit grösstenteils urbanen Regionen. Ja, drei Viertel von uns lebt in Städten oder Agglomerationen. Unser Wachstum in den letzten 20 Jahren hat vor allem in den Agglomerationen stattgefunden.

Ein Wachstum, von dem wir alle auch profitieren: Weil unsere Spitäler und Heime ohne diese Arbeitskräfte nicht funktionieren würden.
Weil unsere IT-Firmen und Banken ohne diese Menschen nicht so erfolgreich wären.

Das können wir denen entgegenhalten, die Dichtestress rufen. Und alle Probleme der Schweiz auf die Einwanderung zurückführen.

Gerade die urbanen Regionen entwickeln Strategien und Lösungen. Soziale, verkehrstechnische, bauliche.

Das ist keine Absage an die Heidi-Schweiz. Das ist ein Plädoyer für die ganze Schweiz. Die Vielfalt an Realitäten. Wie sie die Filmtage zeigen und wie ich sie in meinem Präsidialjahr beschreiben möchte.

Liebe Filmfreundinnen und Filmfreunde

Zum Schluss ein herzlicher Dank.
All den Mitarbeitenden, die sich mit grossem Engagement und Herzblut für die Filmtage und die Schweizer Filmkultur einsetzen.

Ein besonderer Dank an den künstlerischen Leiter Niccolò Castelli und an die administrative Leiterin Monica Rosenberg. Sie stehen zum zweiten Mal auf dieser Bühne.

Wie wird der Filmjahrgang 2023 munden?

Als Publikum lassen wir uns überraschen und zeigen uns offen. Unangenehmes, aber auch Erfreuliches soll auf uns wirken und bei uns Emotionen auslösen – im vollen Saal. Mit viel Publikum: Das ist die Verführung und die grosse Kunst des Kinos!

Der heutige Eröffnungsfilm «Les paradis de Diane» des Regiepaares Carmen Jacquier und Jan Gassmann setzt den Auftakt dazu. Von dieser Autorenschaft kennen wir bis heute europäische und sehr mutige Filme, die uns herausfordern und bewegen.

Lassen wir uns überraschen!

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

EH/17.1.2024