Grusswort an der Diplomfeier der Aussenhandelsprüfungen

19. Oktober 2024 im Kultur & Kongresshaus Aarau, Schlossplatz 9, Aarau

Sehr geehrte Frau Präsidentin
Sehr geehrte Damen und Herren des Vorstandes,
Geschätzte Angehörige, und vor allem:
Liebe Absolventinnen und Absolventen der diesjährigen Prüfungen im Aussenhandel

Die Schweiz und der Handel, insbesondere auch der internationale Handel sind bereits seit langem eng miteinander verbunden.

Das zeigt ein Blick in die Geschichte im Zeitraffer: Der vormals florierende Handel kam nach dem Zerfall des Römischen Reiches im heutigen Gebiet der Schweiz fast vollständig zum Erliegen und blühte erst zwischen 1200 und spätestens 1400 wieder auf: Besonders der Viehhandel auf den städtischen Märkten, in der Lombardei und in Venetien florierte damals. Die rasche Entwicklung des Marktes, der zunehmende Handel mit Luxusgütern auf dem europäischen Kontinent und die optimale geografische Lage der heutigen Schweiz taten ihr Übriges.

In der Frühen Neuzeit wurden die Handelsformen vielfältiger. Die Handelspartner der Schweiz waren vorwiegend in der Nachbarschaft: Frankreich, Piemont und die Lombardei, Süddeutschland und Österreich. Aber auch entferntere Regionen auf dem europäischen Kontinent wie Holland und England oder auch Gebiete in Übersee spielten zunehmend eine Rolle.

Anfangs des 19. Jahrhunderts gewann die Handelsfreiheit als Prinzip gegenüber der strikten Handelskontrolle durch die Obrigkeit zunehmend die Oberhand. Entsprechende Bestimmungen wurden auch in der ersten Bundesverfassung der Eidgenossenschaft 1848 übernommen. Mit der Totalrevision der Schweizerischen Bundesverfassung von 1874 kam schliesslich die Gewerbefreiheit dazu. In dieser Zeit spielten neben dem Viehhandel und dem Handel weiterer landwirtschaftlicher Produkte insbesondere auch der Handel mit Textilien eine grosse Rolle in der Exportwirtschaft.

Innerschweizerisch markierte die Vereinheitlichung des Zollsystems in der Bundesverfassung von 1848 einen zentralen Fortschritt. Nicht nur chemisch-pharmazeutische Produkte, Luxusgüter oder auch verarbeitete Edelmetalle wie Gold, sondern auch Dienstleistungen wurden für die Schweiz immer wichtiger. Unter anderem dieser Austausch brachte die Schweiz zum heutigen Wohlstand.

Der Aussenhandel spielte spätestens seit der Industrialisierung dabei eine prägende Rolle. Obwohl die Schweiz praktisch alle Rohstoffe importieren musste, wies die Schweizer Industrie einen hohen Wertschöpfungsgrad und eine klare Exportorientierung aus. 100 Jahre später, nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, half der Aussenhandel wesentlich dazu bei, die Schweiz aus der internationalen Isolation herauszuführen, welche die wirtschaftliche Bindung an die Achsenmächte verursacht hatte. Die exportorientierten Wirtschaftszweige beförderten die Erneuerung des freien Welthandels; rundherum unterstützte die Exportwirtschaft die Bestrebungen zur europäischen Integration.

Auch dem Friedensprojekt «Europäische Union» liegt eine Wirtschaftsorganisation zugrunde, die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl. Mit dieser Union sollte auf dem von Kriegen erschütterten Kontinent der Zugang zu den entscheidenden Rohstoffen Kohle und Stahl reguliert und fair zwischen den damaligen Mitgliedstaaten aufgeteilt werden. Mit einer supranationalen Struktur wurden also wichtige Handelsgüter gerechter verteilt, zugunsten eines friedlicheren Zusammenlebens.

Und damit sind wir in der Gegenwart angelangt. Der Aussenhandel spielt ja auch in der heutigen Zeit eine eminent wichtige Rolle für die Schweiz, im Fokus steht seit Jahren unsere Beziehung zu unseren wichtigsten Handelspartnern, den europäischen Nachbarstaaten.

Der Volksentscheid von 1992 gegen den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum, der offizielle Rückzug des EU-Beitrittsgesuchs der Schweiz Mitte 2016 und das Scheitern des Versuchs eines institutionellen Rahmenabkommens zwischen der Schweiz und der EU von Mai 2021 stehen für gescheiterte Regelungsversuche unseres Verhältnisses zur EU. Die Bilateralen I und II stehen hingegen für Verhandlungserfolge und sind ganz wesentlich verantwortlich für die Prosperität unseres Landes. Als Bewohnerin einer Grenzregion mit äusserst intensiven Beziehungen zu den Nachbarländern Deutschland und Frankreich wird mir das täglich bewusst. Und als Finanzdirektorin durfte ich das an meinen positiven Haushaltsabschlüssen sehen.

Umso wichtiger ist es aus meiner Sicht, dass wir bis Ende Jahr zu einem Verhandlungsergebnis mit der EU kommen. Damit die Diskussion endlich richtig losgehen kann, im Parlament und in der Öffentlichkeit. Damit wir wissen, womit wir uns befassen müssen. An diesem Verhandlungsergebnis wollen wir dann auch die Behauptungen messen, mit welchen derzeit zum Beispiel die Mesiasse von «Kompass Europa» durch die Lande ziehen. Zu deren Motivation habe ich vor kurzem in den Medien eine unschlagbar gute Zusammenfassung gelesen:

«Wie einst auch Blocher haben die so lange komplett unpolitischen Selfmade-Milliardäre mit einem pragmatischen Ausnutzen der offenen Grenzen ihren Reichtum angehäuft. Jetzt, nach abgeschlossener Vermögensbildung, gönnen sich die Erfolgsverwöhnten ihre Portion Patriotismus und setzen auf eine, wenn auch subtile, Form der Abschottung.»

Abschottung ist keine Lösung und war noch nie die Strategie der Schweiz. Austausch und Handel, eine leistungsfähige und innovative Industrie, ihnen verdanken wir unseren Wohlstand. Das erlaubt nicht nur einen fairen und sozialen Wohlfahrtsstaat, sondern damit wird auch der Handlungsspielraum der Schweiz vergrössert, auf internationaler Ebene Gutes zu tun.

Und hier mache ich mir Sorgen. Die aktuellen Spardebatten auf Bundesebene kennen nur eine Richtung: mehr Geld für die Schweizer Armee und weniger Geld für die Internationale Zusammenarbeit und Entwicklungshilfe. Das ist sehr kurzsichtig gedacht. Wohlstand entsteht nicht im luftleeren Raum. Eigener Wohlstand entstand und entsteht oft zu Ungunsten anderer. Dies verpflichtet, negative Auswirkungen abzufedern und beidseitige Interessen zu suchen. Dies bedeutet, sich an internationale Regeln zu halten, Menschenrechte einzuhalten und globale Umweltstandards zu erarbeiten und dann auch umzusetzen.

Die Schweiz ist keine Insel, die Schweiz ist eines der globalisiertesten Länder der Welt. Global sind heute aber auch die grössten Probleme: der Klimawandel, Chancen und Risiken des digitalen Wandels, globale Konflikte und weltweite Migration. Darauf mit einer «Reduit-Mentalität» aus dem Zweiten Weltkrieg zu reagieren, ist nicht zukunftsführend.

Die jüngeren von Ihnen wissen vielleicht gar nicht, was das ist! Das macht gar nichts. Sie sind in einer globalisierten Welt aufgewachsen. Melden Sie sich zu Wort und setzen Sie sich für Lösungen ein, die dieser Ihrer Gegenwart und Zukunft entsprechen.

Liebe Absolventinnen und Absolventen
Der schreckliche russische Angriffskrieg auf die Ukraine ist ein Angriff auf unsere demokratischen Werte. Ich bin in einer Zeit aufgewachsen, in der wir alle überzeugt waren, das System der Demokratie ist auf dem Vormarsch, und die Bevölkerung aller Länder, die noch keine demokratischen Systeme implementiert haben, haben eigentlich kein anderes Ziel. Heute müssen wir feststellen, dass Demokratien auf dem Rückzug sind und Autokratien, Herrschaftssysteme mit Alleinherrschern, ja, meist Männer, auf dem Vormarsch.

Dies hat auch Folgen für unserer Thema, das hat auch einen Einfluss auf die globalen Lieferketten. Diese gehören zu einem System des freien Handels, zur Globalisierung, von der man sich erhoffte, dass sie der ganzen Welt mehr Wohlstand bringt – was über das Ganze gesehen auch stimmt, wenn auch die Verteilung sehr ungleich blieb. Autokraten kappen nun globale Lieferketten nach ihrem Gutdünken. Das haben wir selber erlebt an den gestiegenen Energiepreisen nach dem russischen Einmarsch in der Ukraine. Das hat vor allem der globale Süden schmerzhaft erfahren, als Russland keine Getreideausfuhr mehr zuliess aus den ukrainischen Häfen. Der Abschluss des Schwarzmeer-Getreideabkommens konnte die schlimmste Not mildern.

Was ich in meinen Ausführungen zeigen möchte: Politik und Wirtschaft, Politik und Handel – sie sind eng miteinander verflochten. Und es geschieht in der Geschichte nicht zum ersten Mal, dass der Protektionismus wieder stärker wird, noch nie dagewesen war vielmehr das Ausmass des globalen Handels der vergangenen Jahrzehnte. Und jetzt liegt es an der Weltgemeinschaft zu entscheiden, in welche Richtung es gehen soll. Freier Handel ist nicht alles, Verteilungsgerechtigkeit und Nachhaltigkeit sind genauso wichtig.

Liebe Absolventinnen und Absolventen
Sie sind in einem extrem breiten und komplexen Umfeld tätig.
Ich hatte in diesem zu Ende gehenden Jahr als Präsidentin des Ständerates wieder mehr Gelegenheit, mich mit aussenpolitischen Themen zu befassen. Auf Reisen Menschen aus den verschiedensten Ländern kennenzulernen. Zusammenhänge zu verstehen, wie sie das Aktenstudium nie vermitteln kann, und andere Perspektiven auf weltweite Prozesse wirklich nachvollziehen zu können.

Ihre Ausbildung bietet Ihnen ebensolche Chancen, ich beneide Sie! Und ich bitte Sie, mit offenen Augen und offenem Geist in die Welt zu gehen. Offen für andere Sichtweisen – dies aber genauso hier in der Schweiz und gerade auch der Politik gegenüber.

Auch ich verzweifle manchmal ob der Diskussionen und Entscheide im nationalen Parlament… Aber nie würde ich deshalb unsere System in Frage stellen. Es ist das beste aller Systeme, mit einer funktionierenden Gewaltenteilung, einem ausgezeichneten Service Public und stabilen Sozialwerken – allen Unkenrufen zum Trotz. Ich wünsche mir einfach weniger Egoismus und mehr Solidarität – aber dazu sind wir alle aufgerufen, schliesslich entscheidet in unserer direkten Demokratie am Schluss immer das Volk – «die da oben entscheiden…», das gibt es bei uns zum Glück nicht.

Neben Ihrem Einsatz im Beruf - interessieren Sie sich auch für Politik, interessieren Sie sich auch für Geschichte, insbesondere Wirtschaftsgeschichte! Mir hat es immer geholfen, die Gegenwart besser zu verstehen, wenn ich mehr über die Vergangenheit wusste. Und das Bewusstsein darüber, dass steter Wandel unser Leben prägt, ist für mich die Motivation, diese Veränderungen mitgestalten zu wollen. Wir alle leisten unseren Beitrag, wo immer wir sind, und das Leben ist spannender, wenn wir über den Tellerrand hinausschauen.

Aber bevor dies nun zu einer Sonntagspredigt wird, komme ich zum Schluss!
Liebe Absolventinnen und Absolventen, Sie haben es geschafft! Sie haben Ihre Prüfungen erfolgreich gemeistert, Sie haben sich tagelang – vielleicht auch nächtelang – Wissen angeeignet und schliesslich brilliert. Für diese Leistung ist es mir eine besondere Freude, Ihnen hier und jetzt gratulieren zu dürfen: Herzliche Gratulation und alles Gute auf Ihrem beruflichen und privaten Lebensweg.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
EH/19.10.2024