24. Januar 2014: Vortrag anlässlich der Veranstaltung «Persönlichkeiten reden» der Freunde des Kunstmuseums Basel und des Museums für Gegenwartskunst, Basel
Meine sehr geehrten Damen und Herren
Weihnachten 2013. Am 24. Dezember ist es tagsüber mindestens 15 Grad warm, die Wintersonne lacht und der Föhn bläst einem ins Gesicht bei den letzten Vorbereitungen für Heiligabend.
In der Nacht kommt der Regen, er hört erst am 26. Dezember spät abends wieder auf. In den Bergen hat es über einen Meter Neuschnee gegeben.
Am 25. Dezember setze ich keinen Fuss vor die Tür, ausser abends für den kurzen Weg zum Familienfest. Am 26. Dezember brauche ich frische Luft, trotz allem. Es ist widerwärtig kalt und nass draussen. Zuerst mache ich eine kurze Tour zu den beiden Kindern, die am 25. Dezember 2011, also auf den Tag genau 50 Jahre nach mir, das Licht der Welt erblickten, und bringe kleine Geschenke. Aber ich bleibe nicht zu Kaffee und Kuchen, ich muss in die Stadt.
Ich nutze die Gelegenheit und gehe ins vertraute Kunstmuseum – mit einer stattlichen Zahl von anderen Paaren und Familien. Viele aus Basel, eher wenig Touristen. Ich treffe Leute, die ich schon lange nicht mehr gesehen habe, aber auch eines meiner Patenkinder – das mit seinen Eltern noch ins Kunstmuseum geht, was bei uns pubertätsbedingt derzeit etwas schwieriger ist.
Ich freue mich darüber, wie unbeschwert und selbstverständlich sie sich im Kunstmuseum bewegt, es ist ein vertrauter Ort. Ihrem Vater bedeuten Kunst und Kultur viel, sie waren im Dezember erst wieder in Rom, haben sich all die «Altertümer» angeschaut, fahren immer wieder nach Venedig – Destinationen, die man für Familien mit Drillingen im Alter von 10 Jahren nun nicht an erster Stelle nennen würde! Wir reden ein bisschen, dann muss sie weiter, die Eltern warten. Ich freue mich über diese Begegnung, sie erinnert mich daran, wie wichtig es ist, dass wir unsere Kulturgüter auch den nachkommenden Generationen präsentieren, ihnen den Zugang erleichtern – auch indem wir unsere Museen immer wieder erneuern und auch Geld für Neubauten in die Hand nehmen – auch wenn ich als Finanzdirektorin darüber Sorgenfalten bekomme, insbesondere wenn alle Projekte zur selben Zeit realisiert werden sollen … (Es ist ja nicht so, dass einem alles geschenkt wird.)
«Es tut gut, ab und zu einen Schritt zurückzutreten vom Alltag, sich grundsätzliche Fragen zu stellen; die täglichen kleinen Ärgernisse erhalten wieder die richtigen Proportionen.»
Ich treffe noch mehr Bekannte an, alle haben Zeit, man plaudert, freut sich, einander zu sehen. Ich liebe diese geschenkten Tage nach Weihnachten und geniesse es, einfach wieder einmal Zeit zu haben für Kultur.
Im Wissen um den heutigen Vortrag schreite ich wieder einmal das ganze Museum ab, denn ich bin mir über meine Bildwahl noch nicht sicher.
Soll ich die Holzschnitte von Holbein nehmen, Bilder vom Totentanz? Die Auseinandersetzung mit diesem Thema für die Ausstellung bei der Predigerkirche, die Installationen von Peter Greenaway, hat mich fasziniert. Es tut gut, ab und zu einen Schritt zurückzutreten vom Alltag, sich grundsätzliche Fragen zu stellen; die täglichen kleinen Ärgernisse erhalten wieder die richtigen Proportionen.
Aber die Holzschnitte von Holbein sind nicht mein Fall, sie berühren mich zu wenig. Ich gehe weiter und finde mich beim selben Thema wieder, beim Thema Tod, der uns alle dahinrafft, ungeachtet von Geschlecht und Stand, dargestellt diesmal durch «Die Pest» von Arnold Böcklin. Ein Maler, der mir etwas zu brutal und zu wuchtig ist, aber dieses Bild fasziniert mich, viel gäbe es dazu zu erzählen.
Aber ich spaziere weiter.
Ich komme an Hodler vorbei, vermisse die grossen Frauen in den fliessenden blauen Gewändern mit dem seltsamen Titel «Blick auf die Unendlichkeit», die für mich zum Kunstmuseum gehören, und erinnere mich an die Ausstellung in der Fondation Beyeler, in der auch einige wunderbare Leihgaben des Kunstmuseums zu sehen waren. Ich überlege, ob ich das Bild «Enttäuschte Seele» nehme, das mit dem jungen Mann auf der Bank, weil es mich so anrührt. Aber ich würde erzählen, was ich über Hodler an einer Führung erfahren habe. Dass ich keine Lust gehabt hätte, ihn kennenzulernen, dass ich ihn als dominanten und rücksichtslosen Mann zweifellos unerträglich gefunden hätte. Aber soll mich das Biografische interessieren, wenn ich die Kunstwerke eines Menschen betrachte? Sind Werk und Person moralisch verbunden für den Betrachter, insbesondere für den nachlebenden? Mich interessiert primär, ob mir die Bilder gefallen, nicht, was der Maler gedacht oder gar privat gemacht hat.
Genauso wenig wie sich für mich die politischen Taten eines Christoph Blocher relativieren, weil er schöne Kunst sammelt, Hodler und Anker. In erster Linie beurteile ich, was er als Politiker tut, was die Auswirkungen seiner Politik auf die Schweiz der letzten Jahrzehnte waren und was die Auswirkungen über sein Medienengagement auf Basel sind – und die sind verheerend.
Aber zurück zur Kunst, um die geht es heute, ich war bei Hodler. Die Gedanken an die Ausstellung in der Fondation erinnern mich daran, wie sehr ich mich auf den Erweiterungsbau des Kunstmuseums freue, der dessen weltbedeutenden Sammlungen endlich neue Räume bietet, neue Möglichkeiten des Hängens und der Kunstvermittlung. Natürlich sind es die Kunstwerke, die eine Ausstellung im Kern prägen, aber das entsprechende Gebäude, die gute Architektur, das richtige Licht und ansprechende Räume tragen wesentlich dazu bei, wie wir der Kunst begegnen.
Voller Vorfreude setze ich also meinen Rundgang durchs Haus fort, und mir wird wieder einmal bewusst, was für Schätze dieses Museum über Jahrhunderte gesammelt hat.
Ich sehe «meine» Schätze, meine Lieblinge über die Jahre, die ich hier gesehen habe oder dann in Sonderausstellungen, in anderer Umgebung, anderem inhaltlichen Zusammenhang, Hodler, Picasso, die Impressionisten.
Ich komme an den Picassos vorbei, eines meiner Lieblingsbilder war lange der Tisch mit den Früchten drauf, «Brot und Obstschale mit Früchten auf einem Tisch» von 1908/1909, dann der Kubismus, dieser Stil hatte es mir lange Zeit speziell angetan. Oder Segantini, nur ein Bild habe ich entdeckt: diese wunderschöne und heile Bergwelt, die mich rührt und heiter stimmt, die ich nicht als kitschig empfinde. Erinnerungen kommen auf an die Auseinandersetzung mit Segantini eines befreundeten Fotografen; über meinen Zugang zu einem Künstler früherer Jahre durch den Blick eines aktuellen Kunstschaffenden, Kunst lebt, lebt weiter, darf auch immer wieder neu interpretiert werden und gerät so nicht in Vergessenheit.
«In erster Linie beurteile ich Christoph Blocher nicht als Kunstsammler, sondern darüber, was er als Politiker tut, was die Auswirkungen seiner Politik auf die Schweiz der letzten Jahrzehnte waren und was die Auswirkungen über sein Medienengagement auf Basel sind – und die sind verheerend.»
Und immer wieder Klee, auch Miró, sie bleiben meine Lieblinge.
Unten im Shop – der viel zu klein ist für ein Museum dieses Formats – stosse ich auf Meret Oppenheim, mit der ich mich in diesem Sommer befasste, leider nur Bücher über sie – sie hat es zwar in die Sammlung geschafft, und ist zu ihrem 100. Geburtstags mit drei Bildern in der Ausstellung präsent. Die Beschäftigung mit ihr war faszinierend, nicht nur ihre Bilder, auch die Malerin: Will ich in ihrem Fall die Person dochkennenlernen? Ja, ich wollte. Aber mir war sehr bewusst, wie ungenügend jede Annäherung an ihre Person bleiben musste, gerade bei Meret Oppenheim, die Vorbild geworden ist für so viele Künstlerinnen, die so viele Zuschreibungen erhalten hat, dass die Abgrenzung zwischen der Person und Projektionen der Nachfolgerinnen ein Ding der Unmöglichkeit ist.
Was habe ich schliesslich ausgewählt? Nun sehen Sie es. Jakob Christoph Miville (1786–1836), die Skizzenbücher seiner Krimreise.
Im September 2011 war ich im Rahmen von «Basel meets Moscow» zum ersten Mal in meinem Leben in Moskau. Wir waren eine bunt gemischte Delegation, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Universitätsspitals, das sich für reiche russische Privatpatienten interessierte; Roland Wetzel, Leiter des Museums Tinguely, war dabei, der für eine nächste Ausstellung «Tatlin. Neue Kunst für eine neue Welt» (Juni bis Oktober 2012) recherchierte, Alain Claude Sulzer, dem wir im letzten Jahr den Kulturpreis der Stadt Basel verleihen durften, war mit von der Partie, und eben auch Hans Christoph Ackermann von der Stiftung für Kunst des 19. Jahrhunderts, der den Aufenthalt für die Vorbereitung dieser Ausstellung über Jakob Christoph Miville nutzte, einen Basler Maler, der von 1786 bis 1836 lebte und der mehrere Jahre in Russland zugebracht hatte, unter anderem in Moskau und St. Petersburg – und von dem ich noch nie gehört hatte.
Moskau. Über die Schweizer Botschaft hatten wir Kontakte zu lokalen Politikern, uns wurden hochtrabende Pläne von Modellstädten gezeigt, mit Forschungseinrichtungen und Industrie, an deren Realisierung wir nicht ganz glauben konnten. Wir bewunderten die schönen Kirchen, die märchenhaften alten U-Bahn-Stationen, alles Zeugen aus einer früheren kulturell reicheren Zeit – wenn auch nicht einer besseren Zeit für die breite Bevölkerung. Doch das ist heute nicht anders.
Wir hatten auch Gelegenheit, mit Peter Gysling zu sprechen, Korrespondent für Schweizer Radio und Fernsehen, der in letzter Zeit viel zu sehen und zu hören ist im Zusammenhang mit den Protesten in der Ukraine. Vor Weihnachten war er zusammen mit seiner Frau Olga, einer Russin, bei uns zu Hause. Sie machen sich beide keine Illusionen über Russland, über die politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Zukunft. Olga sagt, Russland sei etwas für junge starke Leute. Sie freut sich darauf, mit Peter Gysling nach dessen baldiger Pensionierung in der Schweiz zu leben. Wer kann, verlässt Russland, sagt Olga, die Ausbildung ist gut, aber die Berufsaussichten sind trübe. Was für eine Zukunft hat dieses Land, wenn die jungen Leute weggehen?
Im 19. Jahrhundert war die Situation in Russland eine andere, waren die Beziehungen zu Russland ganz andere als heute. Russland war kulturell mit den Monarchien Europas verbunden.
Das Zarenreich galt um 1800 unter Schweizern und Deutschen als attraktive Auswanderungsdestination. Denn die Grossmacht, die von den Revolutionswirren nicht tangiert war, bot qualifizierten Arbeitskräften Stabilität und Karrierechancen. Das rege Kulturleben und die deutschsprachige Kolonie der 1703 gegründeten neuen Hauptstadt St. Petersburg zogen Künstler und Wissenschaftler an. Zu ihnen gehörte auch der 23-jährige Basler Landschaftsmaler Jakob Christoph Miville.
Nach einem kurzen Auftakt in Moskau liess er sich 1809 in St. Petersburg nieder. Dort war Miville zunächst als Landvermesser tätig und von 1811 bis 1816 als Zeichnungslehrer im progressiven Bildungsinstitut des Zürchers Johannes von Muralt. Diese erste feste Anstellung enthob ihn aller finanziellen Sorgen, sie schränkte aber seine künstlerische Tätigkeit ein.
Miville konnte der Landschaft um St. Petersburg nicht viel abgewinnen; er empfand ihre Monotonie und Kargheit als trostlos. Diese eigentliche Schaffenskrise gelang es ihm auf Reisen nach Finnland und Lettland, auf die Krim, ans Schwarze Meer und in den Kaukasus zu überwinden. Insbesondere die Halbinsel Krim, die ihrer landschaftlichen und klimatischen Vorzüge wegen als exotische Perle des russischen Imperiums wahrgenommen und verehrt wurde, faszinierte und inspirierte ihn.
Von der Krimreise zeugen 200 Studien aus dem Jahre 1814. (Das ist übrigens das Jahr, in dem die Schweiz mit Russland diplomatische Beziehungen aufnahm, 200 Jahre.)
Darunter finden sich stimmige Momentaufnahmen, persönlich gehaltene Skizzenbücher, sensible Licht- und Farbstimmungen und topografisch genaue Ansichten; es finden sich Figurendarstellungen, Architekturskizzen, Felsen-, Terrain- und Wolkenstudien etc. Diese 200 Studien bestätigen seine technische Versiertheit, seine künstlerische Sensibilität und seine motivische Vielfalt.
Diese Studien sprechen mich ganz besonders an. Ich empfinde sie noch heute – genau 200 Jahre später – als frisch, lebendig, stimmig und intensiv. Sie geben mir eine Vorstellung davon, was Miville auf seiner Reise bewegte, was er künstlerisch entdeckte und was er persönlich und in Zwiesprache mit der Natur erlebte. Dadurch gewinnen sie für mich – gerade in einer Zeit des schnellen Fotografierens und permanenten Festhaltens – eine ganz eigene Qualität und Bedeutung. Sie lösen auch eine Wehmut aus nach den «langsamerenZeiten» der Tagebücher, Briefe und Poesiealben, der ersten Fotografien mit meinem ersten Fotoapparat, als ich als ca. 16-Jährige zum ersten Mal in Florenz war.
Diese alten Fotos habe ich immer noch, während ich die Bilder auf dem iPhone irgendwann extra oder aus Versehen lösche… Miville hat nicht einfach geknipst, er hat sich mit seinen Motiven auseinandergesetzt, sie mit dem Zeichenstift eingefangen.
Nach seiner Rückkehr in die Schweiz im Juli 1816 begann er mit der «Verwertung» der Krimstudien. Für den russischen Markt – und vor dem Hintergrund der Krimbegeisterung von Russlands Oberschicht – produzierte er u.a. eine vierzigteilige Gemäldeserie, die sogenannte Krimmiade. Für dieses, sein ambitioniertestes Projekt fand er – dank seines guten Kontaktnetzes, allen voran Johannes von Muralt – 1819 in Gräfin Anna Bobrinski in St. Petersburg eine prominente Käuferin.
Dieser als «Voyage pittoresque» angelegte Zyklus schmückte bis zur Russischen Revolution den St. Petersburger Palast der Bobrinkis. Heute finden sich 25 der Gemälde in verschiedenen russischen Sammlungen und Museen. Diese mit grosser Sorgfalt ausgeführte pittoreske Reise legt heute Zeugnis von einer zerstörten Welt respektive eines verlorenen Paradieses ab.
Rückblickend hat auch Miville mit Wehmut auf seine Zeit in Russland zurückgeblickt: «Dort allein mir ein Glücksstern ein wenig glänzte.»
Jakob Christoph Miville wurde als Sohn des wohlhabenden Seidenfärbers Johann Jakob Miville und seiner Frau Margarethe Miville-Lotz 1786, noch im Ancien Régime, in Kleinbasel geboren. Er hat seine Ausbildung als Zeichner bei Peter Birmann in Basel und als Maler bei Johann Caspar Huber in Zürich genossen.
Bald zog es ihn wie viele Künstler seiner Zeit nach Rom, wo ihm die Kontakte zu den Deutschrömern Joseph Anton Koch und Johann Christian Reinhart wichtige Impulse gaben, etwa das intensive Zeichnen in der Natur. Im internationalen Umfeld der römischen Künstlergemeinde entwickelte er sich 1805 bis 1807 zu einem selbständigen Landschaftsmaler.
Er hat die frühromantische Landschaftsmalerei der Schweiz wesentlichg eprägt. (Lustig sind auch seine Bilder aus der Region, z.B. «Blick vom Muttenzer Steinbruch auf Basel».) Er wurde zum Pionier, indem er nicht nur die Umgebung von Rom und die Schweizer Alpen erkundete, sondern eben auch mehrere Jahre in Russland verbrachte. In dieser ungewohnten Umgebung schärfte er seine Wahrnehmung der Natur. Ferner wirkte er als innovativer Zeichenlehrer in St. Petersburg und Basel auf die nachfolgende Künstlergeneration ein.
Jakob Christoph Miville hat ein reiches und vielfältiges zeichnerisches und malerisches Œuvre hinterlassen, das sich heute hauptsächlich im Kunstmuseum Basel, einer Basler Privatsammlung (Hans Christoph Ackermann) sowie – dank einer Schenkung von Hans Lanz, dem ehemaligen Direktor des Historischen Museums Basel – in der Oltner Stiftung für Kunst des 19. Jahrhunderts befindet. Von den über 70 ins Zarenreich verkauften Gemälden konnten inzwischen – wie erwähnt – 25 Krimgemälde in öffentlichen Sammlungen in Russland, in der Ukraine und Armenien aufgespürt werden.
Die aktuelle Ausstellung hier im Kunstmuseum, die noch bis zum 16. Februar dauert, ist absolut sehenswert, aber Sie, die Sie heute hier sind, haben sie bestimmt alle schon gesehen! Der Katalog ist auch ganz ausgezeichnet, sehr informativ.
Damit ist mein Rundgang durchs Kunstmuseum zu Ende, ich freue mich darauf, nach der Durststrecke, die uns bald bevorsteht, sowohl den Neubau wie auch den sanierten Altbau zusammen mit Ihnen zu erobern.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
24. januar 2014