SVF-ADF «Unsichtbare Stolpersteine für Frauen. Unsichtbar Frauen werden sichtbar.»
18. Juni 2022, 14h, Borromäum, Basel

Gender Data Gap

 

Liebe Frauen


Einer meiner ersten Vorstösse im Ständerat forderte die «Verbesserung der Datenlage bezüglich Auswirkungen auf die Geschlechter», ihr habt den Text und die Begründung erhalten. Der Vorstoss wurde inzwischen von beiden Räten überwiesen.

Es war eine Gemeinschaftsaktion im Ständerat und im Nationalrat, konkreter Anstoss war das Buch: «Unsichtbare Frauen» von Caroline Criado-Perez, ein Buch darüber, «wie eine von Daten beherrschte Welt die Hälfte der Bevölkerung ignoriert», wie es im Untertitel heisst,
erschienen 2019 in der englischen Originalausgabe.

Oder auf den Punkt gebracht: Die männliche Perspektive wird als neutral und universal verstanden Männer sind Menschen und Frauen haben ein Geschlecht.
«Der Grossteil der Menschheitsgeschichte ist eine einzige Datenlücke», schreibt Criado-Perez und zeigt an illustrativen Beispielen aus unserem und anderen Kulturkreisen, dass Männer nach wie vor die Norm und Frauen die Abweichung sind:

Wenn zum Beispiel die durchschnittlichen Raumtemperaturen in Büros an Männern ausgerichtet sind, konkret nach einer Formel anhand der Stoffwechselrate eines durchschnittlichen 40-jährigen Mannes von 70 Kilogramm Gewicht und somit mehrere Grad zu kalt sind für Frauen ein Tatbestand, der bei den aktuellen Aufrufen zum weniger heizen durchaus von Relevanz ist.

Oder wenn Klaviertastaturen nach Männerhänden bemessen sind, weshalb viele Pianistinnen nicht gleichviel Oktaven greifen können,
wenn Handys zu gross sind für unsere Hände, und wir nicht mit einer Hand fotografieren nnen,

oder dann die Sache mit den Schlangen vor den Toiletten: Wir alle kennen die Gründe, und mit Blick auf unsere Breitenkreise sagt sie, dass das Problem heute zum Teil dadurch verschärft wird, dass die bestehenden Toiletten für beide oder eben alle Geschlechter zugänglich gemacht werden: Männer nutzen nämlich mit Freude die Kabinen bei den Frauen, während Frauen nach wie vor nicht erpicht sind darauf, an den Urinalen in den Männertoiletten vorbeizugehen und entsprechend noch länger warten.
Gleichzeitig schildert sie eindrücklich, dass die Probleme in Indien ganz andere sind, dort gibt es für Frauen kaum öffentliche Toiletten und der Gang zu diesen meist abgelegenen Toiletten stellt für Frauen eine Gefahr für Leib und Leben dar, von sexuellem Missbrauch bis
Mord.

Warum sind diese Beispiele wichtig?
It’s a man’s world, sang James Brown, und das stimmt immer noch. Ein Schritt auf dem Weg, das zu ändern, ist Daten zu beschaffen über Frauen, damit sichtbar wird, dass Männer nicht das Mass aller Dinge sind weder bei der Ausgestaltung der Toiletten, der Festlegung der
idealen Raumtemperatur, dem Bau von Klavieren, Handys oder Autos: wir müssen die Beine strecken zu den Pedalen, sitzen dann zu tief, dadurch fehlt eine gute Übersicht, es kommt eher zu Unfällen und die enden für uns schlimmer, da die Airbags für Männerkörper
konzipiert sind...

In einer Welt, die immer stärker auf Daten basiert, wird es immer dringlicher, die bestehende Datenlücke zu schliessen, da sich die fehlerhafte Wahrnehmung der Welt, welche Frauen einfach weglässt, perpetuiert: Wenn bei Big Data die weibliche Perspektive
fehlt, kommen die Bedürfnisse der Hälfte der Menschheit nicht vor.

Künstliche Intelligenz unterstützt heute Ärzte bei der Diagnosestellung, sichtet Bewerbungen oder führt sogar Bewerbungsgespräche. Wenn die Daten fehlerhaft sind, Frauen nicht vorkommen, schwinden ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt und kann es zu medizinischen
Fehldiagnosen kommen, mit durchaus gravierenden Folgen. Das berühmteste Beispiel ist der Herzinfarkt, der bei Frauen andere Symptome hat als bei Männern, was lange nicht bemerkt wurde. Es ist auch interessant, dass es vor allem Medizinerinnen waren, die mich auf meinen
Vorstoss angesprochen haben.

Criado-Perez sagt schon im Vorwort: Die Datenlücke und ihre Folgen, eine Welt, die vor allem die Bedürfnisse von Männern abbildet, sei weniger Absicht als vielmehr ein Nicht-Denken, eine Selbstverständlichkeit, die auch wir Frauen meist nicht hinterfragen, vieles fällt
uns gar nicht auf. Aber die Folgen können verheerend sein.

Um dies zu ändern, das Bewusstsein zu schaffen und dann zu handeln, dafür brauchen wir Daten: Ohne Fakten über die Unterschiede und Ungleichbehandlungen, lässt sich keine Politik machen, ist gar nicht klar, was zu fordern ist.

Das ist der Hintergrund dieses Vorstosses, dass jede Statistik nach Geschlechtern aufgeschlüsselt wird. Der Einwand des Bundesrates, dies würde bereits getan, wenn dies für die Fragestellung einer Studie relevant sei, greift zu kurz: diese Argumentation weist auf ein
weiteres Problem hin, das man mit Gender Bias bezeichnet: es ist nicht immer im vorneherein klar, wo ein geschlechterrelevanter Unterschied vorliegt, deshalb soll künftig einfach gelten: Geschlecht ist immer eine relevante Kategorie.

Ein einfaches Beispiel: Heute lässt sich im Bereich der AHV nicht unterscheiden, ob eine Hilflosenentschädigung für die Angehörigenbetreuung zuhause bezahlt wird oder an die Betreuung in einem Heim. Das ist aber entscheidend für die Untersuchung der Frage, ob Angehörige pflegen oder eine Institution und wer dies tut, ob Frauen oder Männer. Diese Daten wären sehr nützlich für das Thema Care-Arbeit, Freiwilligenarbeit, Frauenerwerbsarbeit, Angehörigenpflege bis zur Rentenreform in Bezug auf Gleichberechtigung der Geschlechter und zum Beispiel Angleichung des Pensionierungsalters.

Der Vorstoss wurde von beiden Räten überwiesen. Männer liessen sich davon überzeugen, wenn ich sagte: es geht jetzt einmal darum, Daten zu erheben, die Fakten zu haben Politik machen wir dann nachher, eben faktenbasiert.

Und diese Woche hat mir eine Kollegin im Nationalrat gesagt, sie werde jetzt mal eine Interpellation einreichen und fragen, wie weit die Sache eigentlich sei... Wir lassen nicht locker!

Es geht um tatsächliche Gleichstellung Ich habe das Buch, das den Anstoss gegeben hat, nochmals durchgescannt im Hinblick auf mein Referat heute. Und ich finde es noch wichtiger und treffender, habe noch mehr begriffen, und die Notwendigkeit zu handeln scheint mir  noch dringlicher - warum?

Die Männer bleiben nicht untätig. Mit Rückgriff auf das Gleichstellungsgesetz machen sie ihre Interessen erfolgreich geltend: Das Bundesgericht stützt die Praxis, dass Frauen nach Scheidungen nur noch in Ausnahmefällen Unterhaltszahlungen erhalten (auch dazu verlange ich Daten, in einem anderen Vorstoss), das Rentenalter für Frauen soll erhöht werden, und ich bin überzeugt davon, dass zuerst die Witwenrente abgeschafft und die allgemeine Wehrpflicht für Frauen eingeführt wird, bevor typische Frauenberufe besser entlöhnt werden, Lohngleichheit herrscht, sich arbeiten steuerlich lohnt für gut ausgebildete verheiratete Frauen und ausreichend Plätze für Kinderbetreuung zur Verfügung stehen. Aber hoffentlich nicht bevor wir bei der Erwerbsersatzordnung die völlige Gleichstellung von
Mutterschaft und Militärdienst erreicht haben... aber das ist ein weiterer Vorstoss und meine Redezeit ist um!

EH/17.6.2022