Filmfestival frauenstark 2021

Grusswort Ständerätin Eva Herzog

Eröffnungsfilm: Burning memories

Alice Schmid, Dokumentarfilm, Schweiz, 2021, 80 Min.

Im Alter von 16 wurde Alice Opfer von Missbrauch. Fünfzig Jahre später bahnt sich die verdrängte Erfahrung den Weg zurück ins Bewusstsein. Wie ist es möglich, einen Vorfall ein Leben lang zu verdrängen? Wie kam es dazu, dass sie Filme drehte und Bücher schrieb, immer über Kinder und Gewalt? Alice wandert mit ihrem Akkordeon durch die Wüste, sucht nach Antworten und blickt auf ein Phänomen, das viele Frauen in ähnlicher oder verwandter Weise betrifft.

Die 16-Tage-Kampagne wurde 1991 vom Women's Global Leadership ins Leben gerufen. Diese beginnt stets am 25. November, dem Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen, und endet am Internationalen Tag der Menschenrechte, dem 10. Dezember. Mit diesen Daten soll deutlich gemacht werden, dass Frauenrechte Menschenrechte sind.   

 

Liebe Mitarbeitende von IAMANEH

Liebe Frauen und Männer

 

In einer Lokalzeitung war gestern zu lesen, dass Frauenthemen dominieren, schon fast überdominieren, Frauenthemen seien überall, sind Mainstream… Nun, gut, würde ich sagen. Wenn es nicht dabei bleibt, bei den Veranstaltungen, sondern wenn die Präsenz von Frauen in der Öffentlichkeit, im Beruf und der Politik, der Wirtschaft, auf allen Stufen zum Mainstream wird; wenn sich niemand mehr gegen Vorurteile des Geschlechts - wie auch immer verstanden - zur Wehr setzen muss; wenn Geschlecht kein Argument für oder gegen etwas ist, wo es nichts verloren hat, und vor allem, wenn Frauen keine Gewalt mehr erfahren aufgrund ihres Geschlechts – willkommen Mainstream und Übersättigung!

 

Frauenthemen habe im Jahr «50 Jahre Frauenstimmrecht in der Schweiz» Konjunktur, das ist nachvollziehbar.

 

Und auch das Thema Gewalt an Frauen ist stark präsent in der Öffentlichkeit und mir scheint, es bewegt sich bei der Diskussion etwas in die richtige Richtung.

 

Vor rund zwei Jahren war der Reformbedarf des Sexualstrafrechts in Bundesbern noch höchst umstritten, aber der Wind hat sich gedreht. Es ist bis weit in bürgerliche Kreise unbestritten, dass das aktuelle Strafrecht Betroffene zu wenig schützt. «Nur Ja heisst Ja» ist nicht mehr nur die utopische Forderung der Frauenbewegung, es ist etwas in Bewegung gekommen.

 

Immer mehr Menschen akzeptieren die althergebrachte «Toleranz» gegenüber sexueller Belästigung oder sexualisierter Gewalt nicht mehr. Dies zeigt sich an verschiedenen Vergewaltigungsfällen und insbesondere deren Rechtssprechung, welche intensive Diskussionen oder auch Demonstrationen ausgelöst haben. Stichwortartig:

  • Der Fall in Basel, der schweizweit für Aufsehen sorgte durch die Aussage des Gerichts: die Frau habe mit dem Feuer gespielt, wodurch eine Mitschuld suggeriert wurde. Im schriftlichen Urteil ist davon nichts mehr zu lesen.

  • Oder das Gerichtsurteil in einem anderen Vergewaltigungsfall: Nach einvernehmlichem Sex vergewaltigt der Kollege des Mannes die Frau und der Mann hilft der Frau nicht – und wird vom Gericht freigesprochen. Das Gericht kann gar nicht anders, da es keine gesetzliche Pflicht gibt zu Hilfestellung bei Vergewaltigung, dies gibt es nur bei Bedrohung von Leib und Leben – eine Gesetzeslücke, welche SP-Nationalrätin Tamara Funiciello mit einer parlamentarischen Initiative angehen wird.

  • Das Thematisieren von generell zu tiefen Strafen bei Vergewaltigung, Anwältinnen kritisieren, der Handlungsspielraum beim Strafmass werde bei weitem nicht ausgenützt.

Seit der Unterzeichnung der Istanbul Konvention ist häusliche Gewalt auch in der Schweiz nicht mehr Privatsache, in die sich der Staat nicht einzumischen hat. Die Konvention ist seit dem 1. April 2018 in Kraft. Der Bundesrat ist an der Umsetzung, teilweise flankiert durch Vorstösse aus dem Parlament.

 

Dazu ein paar Beispiele.

 

Vor einem Jahr, ebenfalls im Rahmen der 16 Tage gegen Gewalt an Frauen, haben alle 12 Ständerätinnen eine Motion von mir unterzeichnet, welche eine flächendeckende 24h Beratung fordert für von Gewalt betroffenen Personen, dasselbe wurde im NR ebenfalls überparteilich eingereicht. Und die Motionen wurden in beiden Räten überwiesen! Nun wird an der Umsetzung gearbeitet, Kantone und Bund zusammen. (Link zum Vorstoss)

 

Auch in diesem Jahr machen wir in diesem Feld eine Aktion: parteiübergreifend werden wir sowohl im Nationalrat wie im Ständerat Motionen einreichen, welche wiederkehrend Präventionskampagnen zur Verhinderung jeder Form von Gewalt verlangen, wie von der Istanbul Konvention gefordert. Diesmal zeichnet im Ständerat ein Mitglied der Mitte-Fraktion, Ziel ist wiederum, dass alle inzwischen 13 Ständerätinnen unterzeichnen.

Und Nationalrätin Min Li Marti plant, «Geschlecht» bei Artikel 261bis des Schweizerischen Strafgesetzbuchs zu verankern (dem sogenannten Antirassismusartikel), da sexistische oder sexualisierte Gewaltaufrufe ebenso zu verurteilen sind wie rassistische, antisemitische oder homophobe. Wir überlegen noch, zu welchem Zeitpunkt wir das Frauennetzwerk im Ständerat dazu aktivieren.

 

Seit ich in Bern politisiere, beschäftigen mich Themen im Bereich Gleichstellung bzw. Diskriminierung aufgrund des Geschlechts stark, viele Anliegen müssen ja auch auf Bundesebene gelöst werden. Dazu gehören auch Bereiche wie Lohngleichheit, AHV-Alter, Unterhaltsentscheide für geschiedene Frauen, Individualbesteuerung. Alles Themen, bei denen es darum geht, eine Benachteiligung aufgrund des Geschlechts zu beseitigen, bzw. dafür zu schauen, dass unter Bezugnahme auf das Gleichstellungsgesetz nicht Schlechterstellungen für Frauen umgesetzt werden (Erhöhung AHV-Alter), während Benachteiligungen für Frauen weiterbestehen (Lohnungleichheit) oder sogar alte «Privilegien» abgeschafft werden (tiefere oder keine Unterhaltszahlungen mehr für geschiedene Frauen).

 

Warum sage ich das hier, heute geht es um andere Themen, um existenziellere als die Erhöhung des AHV-Alters, vielleicht.

Ich sage es deshalb, weil ich versuche zu beschreiben, was ich für ein Bild habe von der Stellung der Frauen in der Gesellschaft, ich bleibe jetzt mal in der Schweiz, weil ich das am besten beurteilen kann.

Sind wir gleichberechtigt? Sind wir stark? Oder müssen wir immer wieder und weiterhin zeigen, was wir können, obwohl wir Frauen sind? Werden wir Frauen immer noch strenger beurteilt? Spielt unser Aussehen weiterhin fast die genau gleich grosse Rolle, wie die Aussagen, die wir machen?

Wir machen über die Hälfte der Bevölkerung aus, trotzdem ist die materielle Gleichheit nicht umgesetzt – warum schaffen wir das nicht, wollen wir nicht? Wenn die Individualbesteuerung die finanzielle Selbständigkeit der Frauen stärkt – warum sind wir dann nicht alle dafür?

Wir leben nicht mehr in den 50er Jahren, trotzdem hat die Ehe einen hohen Stellenwert (eben haben sich weitere Gruppen den Zugang erstritten!), und auch die Einverdienerfamilie wird von vielen verteidigt – mit dem Mann als Einverdiener. Was wollen wir Frauen?

Haben wir schon soviel erreicht, dass heute die Männer verunsichert sind und was bedeutet ihre allfällige Verunsicherung, dass beide oder alle Geschlechter tatsächlich zu neuen Rollen finden?

 

Die Welt ist nicht schwarz-weiss und grundsätzlich leben wir in der Schweiz in einer privilegierten Gesellschaft. Dafür bin ich jeden Tag dankbar und nehme es als Verpflichtung, mich weiterhin gegen Ungerechtigkeiten einzusetzen. Und solange ich das Gefühl habe, dass man Frauen zwar mag, sie aber nicht gleich ernst nimmt wie Männer, werde ich mich wehren. Vergewaltigung verdeutlicht dies in übelster Weise: es geht nicht primär um Sex und auch nicht um physische Gewalt, es dominiert die damit verbundene Erniedrigung. Der Frau wird die Würde genommen, und diese Wirkung dauert länger als die Erholung von der physischen Verletzung.

 

Ich spreche zum Glück nicht aus eigener Erfahrung. Aber das Thema berührt mich tief, da es so klar zum Ausdruck bringt, dass die Frau als minderwertiges Wesen betrachtet wird. Und das ertrage ich nicht, dagegen wehre ich mich.

 

Schliesslich sind wir stark – «Frauenstark»!

 

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen allen ein interessantes Festival, mit guten Filmen, nachdenklichen Momenten, guten Diskussionen und der Motivation weiterhin gegen jegliche Diskriminierung jeglicher Geschlechtsidentität zu kämpfen.

 

Danke für Ihre Aufmerksamkeit

EH 25.11.2021